Das dritte Geschlecht
Legimi
Ernst von Wolzogen lebte von 1892 bis 1899 in München, wo er die Freie Literarische Gesellschaft gründete. In dieser Zeit lernte er Sophia Goudstikker kennen. Wolzogens Roman "Das Dritte Geschlecht" beschäftigt sich mit dem Leben der niederländischen Fotografin, Unternehmerin und Frauenrechtlerin. Aus dem Roman: »Mach doch das Buch zu, Claire! - Das geht entschieden nicht so weiter. Ich muss Dich ernstlich bitten - heirate mich!« Also sprach der Privatdozent Doktor Josef Reithmeyer, wohnhaft zu München in der Blütenstraße in einem Rückgebäude über eine Stiege, zu seiner schönen Freundin Claire de Fries, in Zürich, gebürtig aus Groningen in Friesland, Studentin der Medizin derzeit zu Besuch in der Blütenstraße im Rückgebäude über eine Stiege. Das nicht eben große Studierzimmer Doktor Reithmeyers war zur Hälfte in hellen Sommersonnenschein getaucht und die beleuchteten Staubteilchen verschlangen sich mit den langsam ziehenden zartblauen Zigarettenrauchwolken zu seltsam fantastischen Mustern in dem breiten Lichtbande, das die noch nicht gar hochstehende Sonne vom Fenster aus quer durch das Zimmer zog. Die andere Hälfte des behaglichen Raumes lag im Schatten. Eine Glastür führte hier auf das Dach eines Holzschuppens hinaus, und über diesem Dach hatte sich der Herr Doktor ein Leinwandzelt errichten lassen, dessen Seitenteile zum Ziehen eingerichtet waren, sodass man zu jeder Tageszeit die Sonne aussperren konnte. Der Frühstückstisch stand noch unabgeräumt unter diesem Dachzelt und eine kleine Spatzenschar balgte sich lärmend um die Brotkrumen auf dem Boden und auf dem bunten Tischtuch herum. Das Spatzengezänk, das eifrige Hämmern aus der Schusterwerkstatt im Erdgeschoss und das lustige Geschrei spielender Kinder aus einem entfernteren Hofraum schufen, mit dem massig gedämpften Straßengeräusch verquickt, eine friedliche Morgensymphonie. In der Studierstube aber war es ganz still. Das schöne Fräulein de Fries hatte ihr dickes Lehrbuch der Pathologie zugeklappt, sich auf der schwellenden Ottomane lang ausgestreckt und die Hände unter dem dunkelblonden Lockenkopf verschränkt. Sie nagte mit den etwas großen, weißen Zähnen nachdenklich an ihren vollen Lippen herum und starrte zu den langweiligen Obstgirlanden des Plafonds hinauf, ohne ein Wort zu reden. ...
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